Leseprobe „So glaubt mir doch, …“

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… Mit diesen Gedanken kommt er (Sebastian) in die Nähe der angegebenen Adresse. Jetzt konzentriert er sich auf seine ihm möglicherweise bevorstehenden Aufgaben. Schnell sammelt er sich und ist im Kopf klar. Er hält an der angegebenen Adresse und wundert sich allerdings, dort keine Fahrzeuge außer dem von Andreas vorzufinden. Die Spurensicherung ist meist mit zwei, drei Fahrzeugen da und auch das Fahrzeug des Rechtsmediziners ist nicht da. Seine bis dahin gute Laune verfliegt, je näher er dem beschrieben Tatort kommt. Die Haustür ist nur angelehnt und schon ist er im Haus und hat auch schnell das Zimmer erreicht, in dem ein Mord passiert sein soll. Die Tür zu Wohnstube ist weit geöffnet, so dass Sebastian hineinsehen kann. Dort sieht es überhaupt nicht nach Tatort aus. Alles sauber und ordentlich. Vergeblich versucht er etwas zu erkennen, das auf Mord oder einen Kampf schließen lässt, aber nichts. Seine Kinnlade klappt nach unten und der Mund bleibt damit weit offen. Was er sieht, ist ihm in seiner gesamten Laufbahn noch nie passiert. Andreas, sein Kollege, der die Sicherung des Tatorts überwachen sollte, sitzt in einem Sessel und liest. Er ist so vertieft, dass er seinen Chef überhaupt nicht zu bemerken scheint. Der Puls von Sebastian steigt auf zweihundert und er atmet schwer. So eine Frechheit hat er noch nicht erlebt und auch nie geglaubt, dass Andreas dazu fähig ist. Er versucht aber trotzdem ruhig zu bleiben, denn Andreas ist sein Freund und es gibt bestimmt einen Grund.
„Ich denke, die Spurensicherung ist hier und der Notarzt, also das große Aufgebot? Was wird hier eigentlich gespielt? Ist das hier der Tatort oder was ist los?“
Sebastian läuft durch das Zimmer und fasst sich an den Kopf. Er kann nichts erkennen, was im Geringsten auf einen Tatort schließen lässt. Enttäuscht ist er, denn er hat seinen Freund und Kollegen anders eingeschätzt und kann nicht glauben, dass ihm Andreas so einen Streich spielt. Deshalb fragt er auch verärgert, weil der nicht reagiert und immer noch interessiert in das aufgeschlagene Buch schaut:
„Andreas, so kenne ich dich nicht, was soll das für ein Spielchen sein? War es dir allein im Präsidium zu langweilig oder ist hier irgendwo eine Kamera versteckt?“
Jetzt erst schlägt Andreas endlich sein Buch zu und legt es neben sich auf den Fußboden. Langsam steht er auf und stellt sich vor Sebastian. Mit freundlichem Gesicht sagt er:
„Dir wünsche ich auch einen guten Tag, Sebastian. Beruhige dich erst einmal und zerschlage nicht gleich alles Porzellan in deiner Umgebung. So, schnell eine Übersicht zu dem ganzen Geschehen hier: Ich bin mit Anne und dem ganzen Stab der Spusi, auch mit Notarzt hier gewesen und habe sie alle wieder wegschicken müssen. Du siehst ja selbst, jede Hausfrau käme zu dem Urteil: Sauber.“
Bei dieser Mitteilung steht Sebastian einen Moment wie in Schockstarre – bewegungslos und schweigend. Dann legt er ihm wie entschuldigend die Hand auf die Schulter. Seine Stimme klingt nun wieder versöhnlich und ruhig:
„Ja, entschuldige, ich grüße dich auch und wünsche dir einen schönen Nachmittag. Aber, was war los, warum hast du alle wegschicken müssen? Das verstehe ich nicht, hier ist doch ein Mord geschehen und das hier soll ein Tatort sein.“
Andreas läuft, wie um sich zu beruhigen und die richtigen Worte zu finden, durch das Zimmer. Erst zeigt er mit ausgestreckten Armen einmal in die Ecke, dann in eine andere oder auf den Schrank. Er bleibt mitten im Zimmer stehen und mit erhobenem Zeigefinger an der Nase beginnt er zu erklären:
„Wir haben über den Notruf einen Anruf bekommen und der Anrufer sagte glaubwürdig, er habe einen Mann umgebracht. Seine Stimme klang, als sei er selbst verletzt, er atmete sehr schwer. Mühsam und stückchenweise konnten wir noch diese Anschrift herausbekommen. Ich habe Anne, den Notarzt und die Spusi informiert. Also alles, wie vorgeschrieben. … Wir sind los und …“
Andreas dreht sich um, läuft ein paar Schritte auf Sebastian zu und zeigt auf den Sessel. Mit der Hand vor der Stirn macht er eine Geste, die andeutet, dass er etwas überhaupt nicht normal findet. Nun zeigt er wieder auf das Möbelstück, in dem der Anrufer gesessen hat.
„… unser Mörder saß oder hing förmlich hier in dem Sessel und … hat tief und fest geschlafen. Wir dachten zuerst, er ist das Opfer. Anne hat aber schnell festgestellt, dass der lebt und nur seinen Rausch ausgeschlafen hat. Sie hat mit allen Möglichkeiten versucht ihn zu wecken, aber erfolglos. Keine Chance, er hat geschnarcht und gesabbert … und hatte eine wahnsinnige Alkoholfahne.“
Sebastian stellt sich vor den Sessel, sieht lange und nachdenklich auf die Sitzfläche und dreht sich dann um dreihundertsechzig Grad. Aufmerksam und konzentriert sieht er sich dabei im Zimmer um. Er will nichts übersehen. Sein Blick verweilt jeweils mehrere Sekunden auf einem Gegenstand. Erst als er nichts Auffälliges bemerkt, fragt er ratlos:
„Das verstehe ich nicht. Wenn ein Mord gestanden wird, also direkt vom vermeintlichen Mörder, wo ist dann das Opfer? Wo sind die Spuren der Gewalttat?“
Andreas reibt sich ungeduldig oder auch genervt mit beiden Händen die Schläfen und hebt dann die Schultern. Mit einer wirren Gestik zeigt er auf den Sessel und dann irgendwo in den Raum und erklärt:
„Bei aller gründlicher Suche: Es gibt überhaupt kein Opfer und nirgendwo verwertbare Spuren, im Prinzip gar keine. Wir haben, gemeinsam mit der Spusi, alles mehrfach gründlich abgesucht. Auch an der Haustür, nichts Auffälliges, die war nicht aufgebrochen und nicht beschädigt. Es gab keinerlei Hinweise auf eine Gewalttat.“
Jetzt setzt sich Sebastian in den Sessel und versucht, aus diesem Blickwinkel etwas zu erkennen oder sich, allerdings vergeblich, in den Mörder hineinzuversetzen. Dann fragt er weiter:
„Was sagt der Mörder oder vorsichtig ausgedrückt der Anrufer zu der ganzen Sache? Der muss doch einen Grund gehabt haben, den Notruf zu wählen.“
Andreas entschuldigt die Frage mi der Aufregung von Sebastian, dass er es noch einmal wissen will, worauf er ihm schon geantwortet hat. Bedauernd schüttelt er den Kopf, hebt die Arme und die Schultern gleichzeitig und sagt dann lachend:
„Der sagt nichts, kein einziges Wort, der schläft. Ich sagte doch, Anne hat versucht ihn zu wecken und auch der Doktor. Der sagt, der angebliche Mörder wird wahrscheinlich noch zwölf Stunden durchschlafen. Er wollte ihm allerdings kein Mittel zum Wachwerden verabreichen, ohne zu wissen, was der im Blut hatte.“
Sebastian sieht seinen Kollegen und Freund eine Weile schweigend an. Er kann das alles nicht verstehen. Dann steht er schwerfällig auf und schaut sich noch einmal gründlich im Zimmer um. Er will sich selbst ein Bild von dem seltsamen Tatort machen. Nach jedem Schritt bleibt er stehen und sieht sich kopfschüttelnd alles genau an. Er kniet sich hier und streicht mit der Hand über den Fußboden und den Teppich. Es sieht bald so aus, als misstraue er seinem Kollegen und den anderen Experten. Er merkt das und sagt verständnisvoll:
„Keine Angst Andreas, ich misstraue euch nicht, im Gegenteil, ich bin mir sicher, dass ihr eure Arbeit 100%ig richtig gut gemacht habt, aber ich kann nicht glauben, was hier passiert sein soll. Der Tatort gibt nichts her, keine Tatwaffe, keine Blutspuren, keine Kampfspuren, nichts – Null. Ist das auch wirklich der richtige Tatort? Vielleicht hat der nur von hier angerufen, bevor er eingeschlafen ist und der Tatort ist an einem anderen Ort, wo wir vielleicht auch ein Opfer finden.“
Andreas geht in die Mitte des Zimmers und hockt sich hin, als ob er nicht mehr stehen kann. Mit der Hand an der Stirn zeigt er, dass er sein Gedächtnis noch einmal abruft.
„Also der Notruf klang sehr echt, den kannst du dir nachher ja noch einmal anhören. Uns blieb keine Zeit viel zu analysieren, wir mussten schnell handeln und zwar so, wie wir es getan haben und wie wir es gelernt haben.“
Andreas geht zum Tisch und deutet mit einer entsprechenden Geste ein dort stehendes Glas an. Dann zeigt er fast verzweifelt in jede Ecke des Zimmers:
„Der Mann hat uns diese Adresse in Bruchstücken genannt, die wir zusammengesetzt haben. Zu der hat er uns gerufen, wir haben ihn hier angetroffen und wir haben wirklich alles unter die Lupe genommen. Jeden Winkel des Hauses, mehr als einmal. Aber nichts gefunden, gar nichts, nur das eine Glas, aus dem der angebliche Mörder …“
Bei dem Wort Mörder macht er mit großer Geste Anführungsstriche mit den Händen in die Luft.
„… wahrscheinlich getrunken hat. Das Glas ist im Labor, denn die Spusi konnte hierzu noch nichts sagen. Vielleicht finden die etwas zum Inhalt, den der Mörder in sich reingeschüttet hat. Alles andere wurde untersucht und nichts Auswertbares gefunden, keine Blutspuren oder anderes DNA tragendes Material. Übrigens, der angebliche Mörder wird auch auf Schmauchspuren untersucht.“
Sebastian kann das alles nicht begreifen, so etwas hat er noch nicht erlebt. Verständnislos schüttelt er den Kopf, erhebt sich aus dem tiefen Sessel und geht langsam zur Tür. Von dort winkt er Andreas, dass er ihm folgen soll. Er will weg von diesem seltsamen Ort. Beide stehen nun nebeneinander unschlüssig an der Tür. Plötzlich winkt Sebastian ab und geht noch einmal in das Zimmer zurück.
„Sachen gibt es, man lernt halt nie aus. … Dieser komische Vogel muss doch einen triftigen Grund gehabt haben, so zu handeln. Ich glaube nicht, dass der uns nur ein bisschen verarschen wollte. Was sollen und können wir nur aus dieser Scheißsituation machen?“
Die anfänglich miese Stimmung von Sebastian kommt zurück. Er zeigt deutlich, dass er nicht angesprochen werden will. Andreas sieht in dessen Gesicht und merkt, dass sein Chef und Freund wieder verärgert ist, er weiß aber nicht warum. Er hat ihm keinen Grund geliefert und wegen des jetzt etwas mysteriösen Falles bestimmt auch nicht. Über so etwas lacht Sebastian normalerweise. Deshalb fragt er ihn freundschaftlich und unvoreingenommen:
„Sag mal, Sebastian, was ist nur mit dir los? Hast du schlecht geschlafen oder kannst du mich nicht mehr leiden? Mal ganz ehrlich, so kenne ich dich gar nicht.“
Jetzt winkt Sebastian heftig ab, versucht ein freundliches Gesicht zu machen und entspannt zu wirken. Das misslingt ihm aber gewaltig. Andreas sieht aber darüber hinweg. Sebastians folgende Worte scheinen ihm selbst peinlich zu sein:
„Ach, meine Mutter hat heute runden Geburtstag. Wie jedes Jahr eine tolle Feier mit ihren Freunden. Allerdings die Gäste behandeln mich wie den kleinen Basti von vor x Jahren und wollten mir durchs Haar streichen und haben es sogar. … Das Schlimme ist, ich muss noch ein paar Tage bei ihr wohnen.“
Andreas sieht das nicht als Grund so zu schmollen. Er hält sich vor Lachen den Bauch, geht wieder zurück zum Sessel und lässt sich hineinfallen, um sich noch besser amüsieren zu können.
„Jetzt wohnt Sebastian bei Mutti´n und genießt Hotel Mama. Hat man dir etwa die Wohnung gekündigt? Ist mein Gedanke richtig, zu viele Damenbesuche und nächtliche Partys?“
Andreas lacht immer noch und hält das für einen Spaß unter Freunden. Sebastian sieht das zum Glück auch so und weiß nicht so recht, ob und wie er es seinem Freund erzählen soll. Er lacht erst über den Spaß und redet dann einfach los:
„Meine Wohnung wird renoviert und saniert. Fenster, Türen, Heizung und Bad. Die haben uns zwar eine Ersatzbleibe für die Zeit angeboten, aber du kennst ja meine Mutter. Als ich ihr das dummerweise erzählt habe, hat sie gleich wieder mein Kinderzimmer hergerichtet und mir zur Verfügung gestellt. Ein Nein hat sie nicht zugelassen und nun werde ich tagtäglich von ihr bemuttert wie ein kleines Kind. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde sie mich auch noch füttern. Komisch, als ich noch studiert habe und länger von zuhause weg war, habe ich mich nach ihr gesehnt, aber jetzt sind mir schon ein paar Stunden bei ihr zu viel. Manchmal habe ich deshalb ein mächtig schlechtes Gewissen.“
Man sieht, dass Sebastian doch Gewissensbisse hat, dass das nicht spurlos an ihm vorbeigeht. Andreas aber lacht immer noch und dabei ist auch leichte Schadenfreude zu erkennen.
„Sebastian, dass verstehe ich alles, aber diese Freude musst du nicht an mir oder am Team auslassen. Wir können nichts dafür, wenn du damit nicht klar kommst.“
Sebastian sieht Andreas in die Augen und nickt ihm wie entschuldigend zu. Mit einem freundlichen Gesicht fasst er ihn mit beiden Händen an den Schultern, als wolle er ihn umarmen, und sagt leise:
„Hast absolut Recht. Entschuldige, das war nicht in Ordnung. Ich bin ein Riesenrindvieh. Nun aber genug davon und lass uns endlich den Mörder finden.“
Mit diesen Worten zieht er Andreas durch die Tür in den Flur. Der aber bleibt lachend stehen und zeigt in das Zimmer. Sein Arm macht eine kreisende Bewegung, bevor er den Zeigefinger hebt.
„Lass uns erst einmal kleinere Brötchen backen. Erst müssen wir mal das Opfer finden.“
Sie verschließen die Wohnung und versiegeln die Tür. Getrennt gehen sie noch einmal um das Haus und überzeugen sich, dass auch alle Fenster geschlossen sind. Erst als sie feststellen, es ist alles sicher, fahren sie mit ihren PKW zur Dienststelle. Sebastian hat überlegt, aber er wollte nicht wieder nach Hause zu der Geburtstagsfeier seiner Mutter und hat vorgeschlagen, den Bereitschaftsdienst zu übernehmen. Dabei hat er Andreas freigestellt, ob der Feierabend macht oder bleiben möchte und zusammen mit ihm Bereitschaftsdienst machen will. Aber Andreas zeigt, dass er ein echter Freund ist und leistet seinem Chef Gesellschaft.

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